Poesie der Dinge – Zu den Objekten von Rolf Hans

4 Röhren - Rolf Hans 4 Röhren - Versuche I/4, 1972

Zu Beginn der 1970er Jahren beschäftigt sich Rolf Hans erstmals mit der Gestaltung von Objekten. Es sind kleine Skulpturen, die er aus Eisenrohren mit rundem oder viereckigem Profil zusammenfügt. Mit ihnen sucht er parallel zu seinen zeitgleich entstehenden Gemälden eine neue, dreidimensionale Erfahrungswirklichkeit zu schaffen. Hans experimentiert aber auch mit der Verbindung von Objekt und Malerei und kombiniert beides in einem Werk wie bei „4 Röhren - Versuche I/4“, 1972. Daneben fertigt er Mitte des Jahrzehnts auch einige figurative Skulpturen aus verschiedenen Materialien an, wie etwa die „Maske (75)“, die er aus Holz und Kunststoff zusammensetzt.1 Doch verfolgt er diesen Weg zunächst nicht weiter: „Mitten in der Arbeit an den Poesien entdecke ich zwei Arbeiten, 1972 und 1975 entstanden, ganz Freund den damaligen Themen, und deshalb nicht weitergeführt. Doch in die Poesie der Dinge passen sie, als wären sie für sie gemacht, solange gärt eine Arbeit.“

1987 nimmt Hans das Medium Skulptur erneut auf. Dabei gilt ihm der Arbeitsprozeß nun nicht mehr als ein bewußtes Konstruieren, sondern ein sich vom Gegebenen Leiten-lassen. Und wie bei seinem malerischen Schaffen, entstehen jetzt auch seine Objekte aus einer inneren Notwendigkeit heraus, nicht um ein intellektuelles Vakuum zu füllen. „Dieser Zwang hat mich seit Jahrzehnten im Griff und seit ein paar Jahren versuche ich, ihn mit dem Zyklus ‚Poesie der Dinge‘ zu befrieden. Solches Befrieden von Zwängen gab es auch in der Vergangenheit, da waren die Ergebnisse Bilder, Zeichnungen, Grafik sehr spärlich. Wann immer und wie auch immer die Idee zu dem Zyklus entstand, entzieht sich meiner Kenntnis. Sicher gab es Dinge die es wert erscheinen liessen auf einen ‚Sockel‘ gestellt zu werden, die zwei frühen Arbeiten zeugen davon. Irgendwann 1987 lösten die Arbeiten an den Poesien eine andere ab, die abzuschliessen sich aufzwang. Langsam, sehr langsam zu Beginn, dazu mit vielen zweifelhaften Versuchen, wurde das Auge für die neue Aufgabe geschult. Das geistige Klima war vorbereitet“.

So konzentriert sich Hans in seinem letzten Lebensjahrzehnt auf die Arbeit an dem Skulpturenzyklus. Und wie im Rausch schöpft er aus den neu gegebenen Möglichkeiten, die ihm das Gestalten der Objekte bietet: „Die Poesie der Dinge wächst, sie schluckt alle Zeit, Vieles wird vernachlässigt, kaum noch Briefe, das Tagebuch schweigt weitgehend, Konzertbesuche beschränken sich auf Wesentliches. Es entsteht ein Zwang und hat doch als Spiel begonnen, doch Versuche waren immer eine ernste Sache die den ganzen Kerl fordern. [...] Die Objekte haben sich in meine Ratio geschlichen, vorsichtig und unbemerkt, beanspruchen ihren Platz, haben ihn eingenommen, sind Teil meiner selbst.“

Impulse erhält Rolf Hans durch die Kunst anderer Kulturen, beispielsweise die Afrikas, Neuguineas, Chinas, der Indianer oder die der alten Germanen, die er in Sammlungen u. a. in Basel, Berlin oder Paris sieht. Besonders beeindruckt ihn die Vielfältigkeit der Stammeskunst der Naturvölker, so merkt er zu einer afrikanischen Maske an: „Ein weisses Gesicht, kräftige Nase, ein Schmollmund und Kinderaugen, ich konnte es nicht lassen die Maske zu kaufen. Gross ist sie und schwer mit einem Mahnmal auf der Stirn. Sicher nicht alt, sicher nicht wertvoll, lieblich schaut sie drein, nicht erschreckend. Jetzt hängt sie am Bücherregal, erfreut täglich meinen Blick.“

Es gibt für Hans freilich auch Inspirationen aus dem eigenen Kulturkreis. Hier zählt er die „Ready-mades“ von Marcel Duchamp und die abstrakt-stilsierten Formen der Skulpturen von Constantin Brancusi sowie die poetischen Traumassoziationen und ironisch-bizarren Themen Paul Klees auf. Aber auch die „objet trouvé“ von Max Ernst dürften ihn zu seinen Skulpturen angeregt haben. Darüber hinaus erhält er sicherlich ebenfalls Anstöße von den witzig-skurrilen Maschinen Jean Tinguelys und von den Eisenskulpturen Bernhard Luginbühls. Beide Künstler hat Hans in den 1960er Jahren persönlich kennengelernt und ihre künstlerische Entwicklung seitdem aufmerksam verfolgt.

Marcel Duchamp, Roue de bicyclette, 1913/14
Fahrrad, Holzhocker, nummerierte Auflage
Max Ernst, D 1971, 1971,
Collage aus Holzbrettern auf Holzplatte montiert,
Max Ernst Museum, Brühl

„Es ist ein schwierig Ding mit der Kunst, mit Blick auf die Vorgänger versucht man den Weg zu finden, der Zeitgeist und seine Aesthetik beeinflussen die Richtung, man weiss ob der Unzufriedenheit in der man sich bewegt. Jetzt in mitten der ‚Poesie der Dinge‘ ein Gefühl von Freisein, dennoch eng verbunden mit Vielem was vorher war, die Arbeit ohne jeden Zwang, da ist auch kein Programm, nur ein Titel der jeder Arbeit von Freiheit erlaubt.“Doch trotz der Vorbilder vor Augen gelingt es Hans von Anfang an mit seinem Objektzyklus ganz eigenständige Formulierungsmöglichkeiten zu finden. Was ihn mit Max Ernst und den Schweizer Künstler-Kollegen verbindet, ist allein das Ausgangsmaterial: Fundsachen.

Diese unterschiedlichsten und unbeachteten Dinge vornehmlich aus Holz und Metall entdeckt er auf Flohmärkten, bei Altwarenhändlern, in Scheunen, Kellern und Ställen, oder in Antiquitätenläden. Dabei stößt er immer wieder auf Unverständnis seiner Mitmenschen und Widrigkeiten, wie er bei dem Besuch eines Antiquariates in Amsterdam erfahren muß: „Durchs Schaufenster, im Dunkel an der Wand ein Werkzeug, benutzt für die Bearbeitung von Flachs, ein Objekt für Fetisch Nr. ?, doch überstieg der Preis das Budget der Poesie der Dinge. Zudem hatte die Antiquarin keinerlei Verständnis für meine Vorstellung ihre Antiquität zu einem Objekt zu verarbeiten, ihr genügte das Objekt als Antiquität, zumal es Holländisch war mit eingravierter Jahreszahl. Nachdem ich meine Art des Sehens, ihrer Art der Wahrnehmung erläutert hatte, wurde sie zugänglich, gab mir Adressen und so fand ich einige Objekte für die Poesie der Dinge in Amsterdam.“Auch bei seinen Freunden und Bekannten spürt er Nützliches für die Verarbeitung seiner Objekte auf: „Daniel baut sein Jungesellenhaus um [...]. Ich erbat mir die Holzgeländer der Empore, sie müssen einem Betonboden weichen. Hoffe er verfeuert sie nicht aus Platzmangel, bevor ich eine Transportgelegenheit organisiert [habe].“

Die so aufgefundenen Dinge stammen weitgehend aus der nahen oder fernen Vergangenheit. Unter ihnen befinden sich durchaus ungewöhnliche Gegenstände, wie etwa: Flachsreisser, Fließbandräder, Hacken, Hutformer, Ochsenjoche (vgl. „Fruchtbarkeit I“, Abb. 87), Weinfassdeckel, Wetzsteinbehälter, Zigarrentrockner (vgl. „Canto I“ und „Figur XVI“ Abb. S. 87) und Spindeln. Die Liste ließe sich um ein Vielfaches erweitern. Es sind ganz banale Dinge des alltäglichen Lebens – ehemals Benötigtes, Nützliches und Praktisches wie Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände, Geräte –, die ihrer Funktion enthoben sind und nun dem Künstler als Tür zur Phantasie dienen: Unter seinen Händen wird mit wenigen Mitteln aus einer auf einem Sockel montierten Schlosserzange ein feingliedriger „Tänzer“, 1987, der uns beschwingt eine Pirouette vorführen will; oder aus einem in den Holzblock geschlagenen Spaltkeil aus Einsen die im Licht schillernde „Blume III“, 1987. Bei genauerer Betrachtung des ehemaligen Spaltwerkzeuges können wir erkennen, daß das durch starke Benutzung getriebene Metall an den Kanten der Schlagfläche wie verwelkte Blätter herabhängt. Und da werden aus einem auf eine Stange geschweißtes Eisenschloß die „Gesichter VII“,1992, die uns schelmisch angrienen.

Dergestalt entkleidet Hans die Dinge ihrer bisherigen, traditionellen Funktion bzw. ihrer archaischen Bestimmung und transportiert sie in eine andere, neue Wirklichkeit, um sie wieder zu beseelen. Dabei will er, ohne zu ästhetisieren, die vorgefundene Gestalt nicht verleugnen. Ihre ‚angeborene‘ Struktur, Gebrauchsspuren und Farbe nur geringfügig verändernd, sucht er ihren Sinn und Zweck als Form hervorzuheben und ihre innewohnende Ausstrahlung neu zu definieren. „Dieses Darstellen des Zwecks/Inhaltes als Form [ist] ein visueller Vorgang beeinflusst von Vergangenem, ohne direktem Rückgriff.“Gleichwohl will er durch die Wegnahmen oder durch das Hinzufügen von Fremdem neue Formen entstehen lassen, wobei er den Bearbeitungsvorgang nicht als eine Wirklichkeits-Erfindung, sondern als ein Wirklichkeits-Erfahrung sieht. Bei dieser Vorgehensweise schreibt ihm das Vorgefundene stets den Schaffensprozeß vor. Er sieht diese Beeinflussung jedoch nicht als Hemmnis an, sondern als Weg der Freiheit, die Natur der Dinge den Gesetzen der Kunst unterzuordnen. Er nutzt also die Fähigkeit der Kunst dazu, die Dinge zu sublimieren. „Das Besondere oder Weiterführende bei Rolf Hans ist, dass er seine Arbeiten nicht scheinbar wahllos sich gestalten lässt, sondern ihnen mit seinem Künstlersein neue Inhaltswerte vermittelt. Die Objets werden bearbeitet, haben im Kampf mit dem Künstler ihre Eigenart aufzudecken und in Verbindung mit anderen Gegenständen neue Aussagen zu machen.“

So präsentiert Hans ohne jede Künstlichkeit dinghaft die abstrakten Symmetrien der Holzund Metallobjekte und plaziert sie ganz der künstlerischen Tradition gehorchend auf einen Sockel. Darüber hinaus integriert er diesen in das Werk. Denn als unterster Bestandteil bereitet der Sockel nicht nur auf die Skulptur vor, sondern lockert, löst oder festigt ihre Erdverbundenheit. Mit diesem Aufrichten verschafft er den Skulpturen ein weiteres Eigenleben, sozusagen ein zweites Dasein, und gibt ihnen auch mit einen neuen Namen eine neue Identität. „Sie zeigen ihre Persönlichkeit, eines mehr, ein anderes weniger, wie das so ist im Leben, bzw. in der Kunst.“Was ihnen allen gemein ist, ist ihr Wirken aus der Vergangenheit in das Hier und Jetzt. Dabei offenbaren sie ihre ursprüngliche Schönheit und das Mystische, das unsere Phantasie beflügelt.

Das Rätselhafte, das von den Objekten ausgeht, kommt auch in den Titeln zum Tragen. Ohne daß sie auf ihre ursprüngliche Funktion verweisen, wählt Hans meist Bezeichnungen aus dem Bereich des Kultischen, wie „Fetisch“, „Orakel“, „Runen“, „Stele“ bzw. „Totem“. Oder er bezieht sich auf die Kultur Afrikas, so etwa bei „Afrikanisches“, “Afrikanischer König“, „Maske“ und „Waningo“.

Man könnte meinen, auch die Benennung „Canto“ – Gesang – gehöre in diesen Bereich. Doch knüpft Hans hier an die Idee des, von 1915 bis 1962 entstandenen, gleichnamigen Werkes des amerikanischen Schriftstellers Ezra Pound, in dem ohne logische Zusammenhänge Erinnerungen, Augenblickseindrücke und Zitate mit Zeitkritiken verbunden werden.

Gesichter VII, 1992
 

 

 
Kopf XI, 1992

Zu den Bezeichnungen „Ubo“ und „Madame Ubo“,1988, wird Hans von Alfred Jarry‘s phantastischem wie groteskem Theaterstück „König Ubu“ animiert, das 1896 in Frankreich uraufgeführt wurde. Das düster-komische Drama mit seinem maßlosen Fäkalienspäßen handelt von dem ebenso grausamen und habsüchtigen wie feigen Vater Ubu: Motiviert von seiner verschlagenen Frau – Mutter Ubo –, tötet er mittels einer Verschwörung den König, um selbst an dessen Stelle zu treten. Allerdings wird er seinerseits gestürzt und muß schließlich auf einem Schiff fliehen. Parabelhaft werden hier Eigenschaften – wie Geiz, Gewalttätigkeit, Dummheit und Kleinmut – offen zur Schau gestellt, die sich oft hinter der biedermännischen Fassade verbergen. Mit dem Aufgreifen der Hauptcharaktere der Satire, läßt Hans subtil und humorvoll auch kritische Bemerkungen in seine „Poesie der Dinge“ einfließen, worauf ebenso die Skulptur „Kopf eines typischen Mitgliedes unserer Gesellschaft“ von 1987 verweist.

In Rolf Hans‘ Phantasiewelt finden wir mal fröhliche und heitere, mal ernste und beängstigende Dinge und ‚Akteure‘. Sie überraschen uns durch ihre eigenwillige Schönheit, deren Zauber wir uns nicht entziehen können. Sie bewirken immer wieder Erstaunen und decken die Zwiespältigkeit eines Gegenstandes auf.

Da treffen wir auf die aus einer großen Falle, zwei Zigarrentrockner und einem Holzrad entstandenen „Figur XVI“, 1994. Furcht einflößend schaut sie uns an, und ihr großer runder Bauch läßt ahnen, worauf sie aus ist.

Da stoßen wir jäh auf den Tod, wie bei der gleichnamigen Holzfigur von 1992 („Tod I“, Abb. S. 89), die aus einem durch ein Stilbrett mittig geteilten Kopf, einem Gewinde und Rad besteht. Sie versetzt uns aber nicht in Angst und Schrecken. Vielmehr vermittelt sie Frieden, denn ihr weiß getünchtes Gesicht mit den geschlossenen Augen und Mund strahlt trotz der Gewalteinwirkung Eintracht und innere Ruhe aus.

Hingegen löst das Haupt vom „Krieger III“, 1988, – ein großes, stellenweise rostiges Torschloß – Irritationen bei uns aus: Trotz der großen Wunde auf seiner rechten Wange grinst er uns mit einem breiten Lächeln an. Wüßte man nicht um den Titel, so könnten wir an ein geschminktes Clownsgesicht denken.

Ebenso scheint der „Kopf XI“, 1992 – ein auf einen Sockel montiertes Blechgefäß (ein Bettwärmer?) – verletzt. Schiebt man seine linke ‚Gesichtshälfte‘ beiseite, kann man in ihn hineinschauen. Erfüllt er uns auf diese Art mit einem Augenzwinkern den wohl oft gehegten Wunsch, einmal hinter die Stirn unseres Gegenübers blicken zu dürfen? Was wir jedoch in seinem Inneren vorfinden, ist enttäuschend: Dunkelheit und Leere.

Durch welche ambivalenten Weise uns die Skulpturen und Objekte von Rolf Hans auch begegnen, sie tun dies nie laut oder exaltiert. In ihrer ausgewogenen und schlichten Erscheinungsform treten sie still und leise, aber bestimmend mit uns in Kontakt. Befremdend fordern sie uns immer wieder auf, Fragen zu stellen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Sie bieten uns keinerlei Hinweise, die uns bei der Beantwortung weiterhelfen könnten. Dafür geben sie uns einen um so größeren Spielraum für Assoziationen und Imaginationen. Sie appellieren an unser Unterbewußtsein. Sie laden uns zum Verweilen und zur Meditation ein: Es ist der allvertraute Beginn und das unbewußte Aufbrechen zu dem Geheimnissen der Schöpfung.